
Porträt eines Lebensmittels
Von Hendrik Haase
Willkommen in Nordhessen
Wiesen, Wälder und Weiden prägen die Region Nordhessen. Eine Mittelgebirgslandschaft mit fruchtbaren Tälern und Ebenen. Die eher dünn besiedelte Wald- und Höhenregion ist von bäuerlicher Selbstversorgung geprägt. Im historischen Kerngebiet der Hessen finden sich viele kleine Dörfer und wenige große Städte. Die größte Stadt der eher dünn besiedelten Region ist die kurhessische Hauptstadt Kassel. Durch das Gebiet fließen die Flüsse Fulda, Werra, Schwalm und Eder. Die beiden Ströme der Fulda und Werra vereinen sich bei Hannoversch Münden zur Weser. Mit dem Nationalpark Kellerwald- Edersee befindet sich der einzige Nationalpark Hessens in der Region.
Traditionell und einfach
Vor dem ländlichen und bäuerlichen Hintergrund der Region entstanden viele rustikale Haussschlachtungs- Spezialitäten, die in den Kammern der Bauernhäuser reiften und gelagert wurden. Die Zutaten und die Verarbeitung sind einfach und doch die Grundlage für einzigartige Produkte. Rezepte und Zubereitungsweisen wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Die besonderen Aromen entstehen durch die traditionelle Art der Verarbeitung und die natürliche, langsame Reifung. So romantisch dieses Bild klingt und unser aller Sehnsucht nach ehrlichen, traditionellen Lebensmitteln mit regionaler Identität erweckt, ist allerdings auch ein Blick in die Realität angebracht. Aus den einfachen Spezialitäten ist in der massenhaften industriellen Herstellung mittlerweile eine umfangreiche Mischung aus den traditionellen Grundzutaten, vielerlei Reifehilfsmitteln und Zusatzstoffen geworden, die die Wurst schneller reifen lassen und die Haltbarkeit verlängern. Dies geschieht aber immer zu Lasten der Qualität und des Geschmacks. Dennoch gibt es Hoffung, denn einige wenige Metzger arbeiten noch so, wie man es seit jeher in Nordhessen tut – traditionell mit Sorgfalt und Liebe zum Handwerk und den Produkten.
Eine alte Wurst
Die Ahle Wurscht ist die bekannteste Spezialität der Region. „Ahle Worscht“, wie sie im Dialekt auch genannt wird, bedeutet so viel wie alte Wurst, denn „ahl“ ist hessischer Dialekt für „alt“. Die luftgetrocknete Wurstspezialität ist lange haltbar und war über das ganze Jahr ständiger Begleiter bei der Arbeit im Feld und zur Mahlzeit am Küchentisch. Die Wurst reift mehrere Monate in den Reifekammern der Metzger und der zahlreichen Selbstversorger der Region. Diese Wurstkammern sind in Bauernhäusern und Scheunen zu finden. Jede Kammer sorgt für einen anderen Geschmack. Im Volksmund heißen diese mit Hunderten Würsten vollgehängten Kammern auch „Wursthimmel“ und sind ein beeindruckendes Bild.
Das traditionelle Wurstjahr
Die Ahle Wurscht war auf dem Land in den Jahresablauf eingebunden und eine der traditionellen Arten, Fleisch lange haltbar zu machen. Für die langsame Reifung der Wurst war in den Kammern ein kühles und feuchtes Klima wichtige Vorraussetzung. Daher waren es traditionell die Monate „mit r“, im Herbst und Winter, in denen die Würste reiften. In diesen Haussschlachtungsmonaten wurden die Schweine geschlachtet und sofort zu Ahler Wurscht verarbeitet. Da die Ahle Wurscht das ganze Jahr gegessen werden sollte, entstanden unterschiedliche Wurstformen mit unterschiedlichen Durchmessern (Kaliber), die unterschiedlich reif wurden. Dem Brauch nach sollte der Schlachter beim Schlachttermin im Herbst das letzte Stück Ahle Wurscht aus dem Vorjahr essen.
Gute Schweine für eine gute Wurst
Die viele Monate andauernde lange Mast von Schweinen ist heutzutage nicht mehr weit verbreitet. Die traditionelle Fütterung mit Dampfkartoffeln, Resten aus der Küche und selbst angebautem Futter ist mittlerweile so gut wie ausgestorben und einer Mast mit Getreide und Sojaschrot gewichen. Schweine aus der heute üblichen industriellen Schweinemast, die nach wenigen Monaten Turbomast geschlachtet werden, sind jedoch für die Ahle Wurscht ungeeignet, da das Fleisch nicht die Qualität besitzt, nicht fett genug und noch nicht reif für eine gute Wurst ist. Die Frage nach einer guten Ahlen Wurst beginnt also beim Schwein. Wichtig ist, wie das Schwein gelebt hat, wie lange es gelebt hat, was es dabei gefressen hat – und auch unter welchen Umständen es schlussendlich gestorben ist.
Qualität ist eine Frage des Gewichtes
Für die Ahle Wurscht wird traditionell nur das Fleisch schwerer Wurstschweine verarbeitet. Die traditionelle Regel besagt, dass ein Schwein mindestens ein Mal die Kirmesglocken (Kirmes ist ein alljährliches Volksfest im Herbst) gehört haben sollte, besser sogar zwei Mal. Für eine gute Ahle Wurscht sollten die Schweine mindestens ein Lebendgewicht von 150 Kilogramm besitzen und lange gemästet worden sein. Die Beziehungen zwischen Metzger und Schweinemäster sind bei denen, die noch traditionell und handwerklich produzieren, in der Regel sehr eng. Das ist wichtig, um eine gleichbleibend hohe Qualität zu gewährleisten. Sie sorgen für eine nachhaltig gute Wurst und den Erhalt von regionalen Beziehungen. In der industriellen Produktion bestehen diese Verbindungen nicht mehr, und das anonyme Schwein vom Großschlachtbetrieb aus der Ferne findet fast immer Verwendung.
Der traditionelle Schlachttag
Bereits einen Tag vor der Schlachtung werden die Schweine zum Schlachthof gebracht, damit sie früh am nächsten Morgen ungestresst geschlachtet werden können. Nach der Schlachtung am nächsten Morgen wird das Fleisch sofort vom Metzger zerlegt. Diese schnelle Verarbeitung innerhalb weniger Stunden nach der Schlachtung wird als schlachtwarme Verarbeitung bezeichnet. Dieses Verfahren ist wichtig für die Konsistenz und den Geschmack der Ahlen Wurscht. Diese Warmfleischverarbeitung war früher weit verbreitet und die übliche Art, Wurst zu machen. Heute wird diese Art des Metzgerns jedoch aufgrund von immer längeren Produktionsketten und Transportwegen in der modernen Fleischindustrie nicht mehr angewandt. Die Metzger, die noch auf traditionelle und damit tierschonende Art schlachten gehen, also ein hohes Risiko ein um die qualitativ hochwertigere und geschmackvollere Ahle Wurscht zu produzieren. Sie müssen gegen diejenigen bestehen, die ihre Kunden täuschen und die mit Geschmacksverstärkern und anderen Zusatzstoffen entstehenden Mängel durch schlechte Fleischqualität ausgleichen.
Wurst machen
Nach dem Auslösen und dem Entfernen von groben Sehnen werden das gesamte Muskelfleisch des Schweins sowie der Speck grob zerkleinert. Alle Fleischteile, bis auf das Eisbein und das Filet, werden dabei für die Ahle Wurscht verwendet. Als Zutaten kommen dann noch hinzu: fisch gemahlener Pfeffer, Salz, frischer Knoblauch (manche Metzger legen den Knoblauch zuvor in Alkohol ein), etwas Haushaltszucker und etwas Salpeter. Manche Würzungen enthalten zusätzlich Senfkörner, Muskat oder Kümmel. Zum Fleisch und den Gewürzen kommt zum Schluss ein Schuss Schnaps oder Rum. Das Fleisch und die Würzung werden danach miteinander vermengt und mit dem Fleischwolf zu einem groben Brät, das grobem Hackfleisch ähnelt, verarbeitet.
Ab in den Darm
Das entstandene grobe Brät, die Wurstmasse, wird nun in die Naturdärme gefüllt. Oben am Wurstkopf wird die Wurst verknotet und mit einem Metallclip versehen, in den das Produktionsdatum eingeprägt ist. Die langen Zipfel verhindern, dass die Schlaufe abrutschen kann. Schwere Würste werden „über Kopf“ gebunden. Nach dem ersten Knoten wird der Wurstzipfel hierbei nochmals umgeschlagen und dann erneut verknotet. Die Zipfel der runden Würste werden im Dreieck verknotet, sodass sich die beiden Zipfel nicht berühren, da sie sonst zu lange feucht bleiben würden.
In der Wurstkammer
Nach dem Befüllen werden die Würste auf langen Holzstangen aufgehängt. Immer so, dass sie sich untereinander nicht berühren und gleichmäßig trocknen können. Sobald die Würste von außen trocken sind, werden sie in die Reifekammer gehängt. In einigen Regionen Nordhessens wird die Ahle Wurscht einer leichten Räucherung unterzogen, bevor sie in die Reifekammer gehängt wird. Nun kann die natürliche Reifung der Rohwurst in der sogenannten „Wurschtekammer“ beginnen.
Weniger ist mehr
Während der Zeit der Reifung verliert die Ahle Wurscht durch die Lufttrocknung über die Hälfte ihres Gewichtes! Natürlich lässt sich mit Hilfe des Chemiebaukastens dieser Gewichtsverlust heute verringern. Doch diese industriellen Versuche, die Ahle Wurscht „wirtschaftlicher“ zu machen, gehen wie immer zu Lasten des Geschmacks und sind für ehrliche Metzger ein Tabu.
In der Reifekammer
Ahle Wurscht reift in kühlen, luftigen und nicht zu trockenen Räumen. Ideal dafür geeignet waren die Lehm-„Wurschtekammern“ in den alten Bauernhäusern der Region. Moderne Produzenten von Ahler Wurscht schaffen heute durch Lüftungssysteme und eine Auskleidung der Lagerräume mit ungebrannten Lehmziegeln die idealen Lagerbedingungen. Sie simulieren das Naturklima und ermöglichen so eine Reifung der Ahlen Wurscht über das gesamte Jahr. Durch die immer größere Verbreitung von Zentralheizungen ver schwanden die traditionellen „Wurschtekammern“ in den Bauernhöfen. Das Klima in den Häusern der Region wurde durch diese Technik wärmer und trockener und eignete sich nicht mehr zur Reifung oder Lagerung der Rohwurst.
Das richtige Klima
Das in den Kammern vorhandene Reifeklima, ein Gleichgewicht von Raumtemperatur und Luftfeuchte, ist essenziell für eine langsame Reifung und den Edelschimmel, der sich nun auf der Oberfläche bildet. Die natürliche Mikroflora, die sich nun ans Werk macht, gibt der Ahlen Wurscht ihr einzigartiges Aroma. Je nach Region und Produzent ist das Reifeklima verschieden und sorgt für einen unterschiedlichen Geschmack der Wurst. Ähnlich wie beim Wein zeigt sich hier das unterschiedliche Terroir. Heute bedrohen EU-Richtlinien diese einzigartigen Reifekammern. Jedoch kann in den geforderten hygienisch keimtoten Edelstahlkammern nie die einzigartige Geschmacks- und Aromenvielfalt entstehen, wie sie in einer alten Scheune oder Lehmkammer entsteht.
Pflege und Reifezeit
Die Ahle Wurscht erfordert während der Reifezeit ständige Beobachtung und Pflege. Der Schimmel muss von Zeit zu Zeit von der Pelle abgebürstet oder abgewaschen werden, um eine gleichmäßige Reifung zu erzielen. Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit müssen konstant gehalten werden, damit eine gleichmäßige Trocknung und Reifung der Wurst gesichert ist – ein sensibles Gleichgewicht in der Hand des Metzgers. Die Dauer der Reifung von Ahler Wurscht hängt von der Sorte des Darms und dem Kaliber ab. Generell gilt: Je dicker die Wurst, desto länger die Reifung. Die Dauer der Reifung ist zudem abhängig von der Qualität des Fleisches und der Körnung des Wurstbräts.
Geschmack
Ahle Wurscht isst man am besten „aus der Faust“. Dazu schneidet man ein ordentliches Stück von der Wurst ab und genießt den mürben Biss. „Dünne Scheibchen“, wie man sie vielleicht von der Salami kennt, sind unüblich.
Dieser mürbe Biss, ist ein typisches Merkmal der traditionellen Herstellung. Die grobe Textur, die zum Kauen anregt, erinnert in ihrer Konsistenz an Marzipan. Beim Kauen entsteht ein feiner, klarer und ausgeprägter Schweinefleischgeschmack. In der Würznote dominiert schwarzer gemahlener Pfeffer. Anders als bei einer Salami macht sich bei einer Ahlen Wurscht die Säure kaum bemerkbar. Industrielle Imitate der Ahlen Wurscht zeichnen sich vor allem durch eine gummiartige Konsistenz aus, die in der Textur eher an Salami erinnert. Geschmacklich fehlt die Tiefe und die Aromenvielfalt der traditionellen Hausschlachte-Spezialität.
… und dazu
Der traditionelle Begleiter der Ahlen Wuscht ist ein kräftiges Bauernbrot, idealerweile ein reines Roggenbrot aus dem Holzbackofen, dick mit guter Butter beschmiert. Passende Getränke sind leicht herbe Biere, klare Schnäpse oder einfach kühles Leitungswasser. Die Nordhessen trinken auch gerne Bohnenkaffee zu ihrer Ahlen Wurscht, nicht zu stark und ohne Milch und Zucker. Ahle Wurscht passt gut zu einer Vesper mit anderen nordhessischen Wurstspezialitäten wie Leberwurst, Blutwurst, Sülze, Schwartenmagen und kräftigen Käsesorten.
Lagerung
Am besten hängt Ahle Wurscht in einer kühlen, dunklen Speisekammer bei 14° C und einer hohen Luftfeuchtigkeit. Gut ausgereifte Wurst lässt sich länger bevorraten. Jetzt verträgt die Wurst auch höhere Temperaturen und lässt sich offen hängend in der Küche aufbewahren. Ausschwitzendes Fett beeeinträchtigt zwar das Aussehen der Wurst, nicht aber den Geschmack. Eine offene Lagerung im Kühlschrank sollte vermieden werden, da dies zu deutlichen Geschmacksbeeinträchtigungen führt. Bewährt hat es sich dagegen, die Wurst dick in Zeitungspapier einzuwickeln und im Gemüsefach des Kühlschrankes zu lagern. So bleibt sie monatelang haltbar.
Förderverein Nordhessische Ahle Wurscht e.V.
Aus der Hausschlachte-Spezialität ist ein gewerbliches Produkt geworden. Damit einher ging bei vielen Herstellern eine Abkehr von der traditionellen Form der Herstellung, denn das traditionelle handwerkliche Herstellungsverfahren ist kosten- und zeitaufwändig. Im Oktober 2004 gründete sich, initiiert durch „Slow Food Nordhessen“, der Förderverein Nordhessische Ahle Wurscht e.V., um den kleinen Anteil gewerblicher Hersteller zu unterstützen, die noch konsequent traditionell produzieren. Der Förderverin hat sich zum Ziel gesetzt, die traditionelle Herstellung zu erhalten und weiterzuentwickeln. Der Förderverein zeichnet mit einem Siegel Produzenten aus, für deren Ahle Wurscht schwere Schlachtschweine verarbeitet werden (deren Herkunft ergründbar ist), bei deren Ahler Wurscht eine traditionelle Würzung vorgenommen wird, keine Reifebeschleuniger oder sonstige industrielle Zusätze eingesetzt werden und bei denen die Ahle Wurscht langsam reift.
Informationen zur Ahlen Wurscht finden Sie im Internet unter:
www.nordhessische-ahle-wurscht.de www.slowfood.de/nordhessen
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Kasseler Ahle Worscht Fanclub n.e.V.